StartAuto und VerkehrNachhaltigkeitsinitiativen verlieren in der Automobilindustrie an Fahrt

Nachhaltigkeitsinitiativen verlieren in der Automobilindustrie an Fahrt

Ohne verstärktes Engagement in die Nachhaltigkeit droht die Automobilbranche die Pariser Klimaziele zu verfehlen

Berlin

Beim Thema Nachhaltigkeit verzeichnet die Automobilindustrie in den letzten drei Jahren kaum Fortschritte. So sind die Investitionen [1] in Nachhaltigkeitsinitiativen von durchschnittlich 1,22 Prozent des Umsatzes im Jahr 2019 auf 0,85 Prozent im Jahr 2022 zurück gegangen. Auch in Deutschland sind die Investitionen gesunken, wenngleich diese mit 1,11 Prozent noch deutlich über dem globalen Durchschnitt liegen. Die Zulieferer investieren jährlich sogar einen größeren Anteil ihres Umsatzes (0,93 Prozent) als die Hersteller (0,79 Prozent). Auch die Umsetzung der wichtigsten Nachhaltigkeitsinitiativen [2] hat sich in der Branche seit 2019 nur geringfügig verbessert und sich in einigen Bereichen sogar verschlechtert. Die derzeitige Geschwindigkeit der Automobilbranche im Bereich Nachhaltigkeit wird daher nicht ausreichen, die CO2-Emissionen deutlich zu senken und die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Das geht aus der aktuellen Studie des Capgemini Research Institute „Sustainability in Automotive: From Ambition to Action“ hervor, für die weltweit über 1.080 Führungskräfte von Automobilherstellern und -zulieferern befragt wurden. Aktuelle Herausforderungen wie die anhaltende Chip-Knappheit und Probleme in der Lieferkette haben zu einer Neuausrichtung der Prioritäten geführt.

Der Europäische Green Deal und das Pariser Klimaabkommen machen es für die Automobilindustrie erforderlich, nachhaltigere Lösungen zu verfolgen, um die Klimaziele zu erreichen. Die Studie zeigt, dass sich eine große Mehrheit (70 Prozent) der Automobilunternehmen auf die Reduzierung der Gesamtemissionen in der gesamten Wertschöpfungskette konzentriert, einschließlich der Scope-1-, -2- und -3-Emissionen [3], von der Beschaffung bis zu den End-of-Life-Prozessen. Zwei Drittel (64 Prozent) der Automobilunternehmen erwarten eine Reduzierung der CO2-Emissionen bis 2040, und 57 Prozent gehen über die Einhaltung von ESG-Vorgaben hinaus und machen Nachhaltigkeit zu einem wichtigen Geschäftsfaktor. Allerdings hat die Branche seit 2018 ihre Treibhausgasemissionen insgesamt nur um 5 Prozent reduzieren können, bis 2030 wird eine Reduzierung um 19 Prozent erwartet. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit sind die Automobilunternehmen nicht in der Lage, das Gesamtziel des Pariser Klimaabkommens von Netto-Null-Emissionen bis 2050 zu erreichen.

Die Studie zeigt, dass nur eine kleine Gruppe von Unternehmen (weniger als 10 Prozent) bei der Strategie und der Umsetzung von Nachhaltigkeit führend ist. Diese Unternehmen („Sustainability Leaders“) konnten ihre Emissionen seit 2018 bereits um durchschnittlich 9 Prozent senken, verglichen mit 5 Prozent in der gesamten Branche. Erwartet wird, dass sie ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um 35 Prozent reduzieren (im Vergleich zu einer prognostizierten durchschnittlichen Reduktion von 19 Prozent in der gesamten Automobilindustrie). Gleichzeitig soll sich ihre betriebliche Effizienz bis 2026 um 22 Prozent verbessern (im Vergleich zu 16 Prozent für den Rest der Unternehmen im gleichen Zeitraum). Dies lässt sich direkt auf ihre Nachhaltigkeitsinitiativen zurückführen, die zu einer höheren Transparenz in der gesamten Wertschöpfungskette beitragen. Die führenden Unternehmen konnten durch ihre Nachhaltigkeitsinitiativen zudem ihre Attraktivität für Talente steigern (18 Prozent gegenüber 10 Prozent bei den übrigen Unternehmen).

Die Umsetzung von Nachhaltigkeitsinitiativen hat sich nur in wenigen Bereichen verbessert

Die Unternehmen der Automobilindustrie konzentrieren sich auf die Reduzierung von Emissionen und priorisieren Initiativen, auf die sie direkten Einfluss haben, wie etwa die Herstellung und die Dekarbonisierung von Fahrzeugflotten. Der Studie zufolge ist der Einsatz von Initiativen für eine nachhaltige Lieferkette von 42 Prozent im Jahr 2019 auf 57 Prozent im Jahr 2022 (in Deutschland von 40 auf 60 Prozent) und die verantwortungsvolle Beschaffung von Metallen im gleichen Zeitraum von 33 Prozent auf 44 Prozent gestiegen (in Deutschland von 29 auf 63 Prozent).

Die Studie verzeichnet jedoch einen rückläufigen Trend bei der Umsetzung von Initiativen zur Kreislaufwirtschaft. Obwohl 73 Prozent der Unternehmen weltweit der Meinung sind, dass der Beitrag zur Kreislaufwirtschaft notwendig ist, um langfristige finanzielle Ziele zu erreichen und wettbewerbsfähig zu bleiben, verfügen nur 53 Prozent der weltweit befragten Unternehmen über eine Strategie für die Kreislaufwirtschaft und 45 Prozent halten sich derzeit an die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft [4] in ihrer gesamten Wertschöpfungskette; Deutschland liegt hier mit 63 Prozent und 54 Prozent über dem Durchschnitt.

Der Übergang zu Elektrofahrzeugen bleibt komplex und stellt nur einen Teil der Lösung dar

Die Notwendigkeit, die Treibhausgasemissionen zu verringern, hat die Automobilhersteller dazu veranlasst, ihren Fokus verstärkt auf Elektrofahrzeuge (EVs) zu richten. Um diese Effekte über die gesamte Lebensdauer eines Elektrofahrzeugs zu erzielen, müssen die Hersteller die Zirkularität der Produktion sicherstellen und den End-of-Life-Prozess für Elektrofahrzeugbatterien in der gesamten Wertschöpfungskette berücksichtigen. Weniger als die Hälfte (41 Prozent) der befragten Führungskräfte gab an, dass ihr Unternehmen eine spezielle Nachhaltigkeitsinitiative für das Ende der Lebensdauer von Batterien verfolgt; bei Second-Life-Batterien sind es nur 28 Prozent. Trotz steigender Verkaufszahlen von Elektroautos zögern die Kunden häufig aufgrund von Bedenken bezüglich Reichweite und Kosten für das Aufladen noch auf diese umzusteigen; attraktiver sind vielfach die bessere Verfügbarkeit von Ersatzteilen für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor und Wartungsoptionen. Steigende Kosten für das Energienetz und komplizierte Lademöglichkeiten bremsen den Fortschritt und die Akzeptanz.

Fehlende KPIs lassen die Umsetzung stagnieren

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die unzureichende Integration wichtiger Nachhaltigkeitskennzahlen in das Tagesgeschäft und Perfomance Management dazu führt, dass die Umsetzung stagniert: 73 Prozent der befragten Führungskräfte sind der Meinung, dass die Einführung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen in ihren täglichen Aktivitäten und Prozessen in den letzten zwei bis drei Jahren nur geringfügig zugenommen hat oder gleich geblieben ist. Nur 10 Prozent der Unternehmen weltweit und 14 Prozent in Deutschland haben die Leistungsziele mit den wichtigsten Nachhaltigkeitszielen für nichtleitende Angestellte abgestimmt. Schwierigkeiten bei der Erfassung, Verwaltung und Analyse von Nachhaltigkeitsdaten sind ebenfalls eine der größten Herausforderungen: Nur 12 Prozent der Führungskräfte gaben an, dass ihr Unternehmen derzeit eine Plattform einsetzt, um Nachhaltigkeitsinitiativen in vollem Umfang zu messen, monitoren und zu reporten.

Eine unternehmensweite Rechenschaftspflicht ist der Studie zufolge unabdingbar, um Ziele festzulegen und sich über den Fortschritt von Nachhaltigkeitsinitiativen auszutauschen. Da die Stakeholder die Einhaltung der ESG-Richtlinien genau unter die Lupe nehmen, müssen Daten aus der gesamten Lieferkette quantifiziert werden, um Transparenz zu zeigen und eine Grundlage für die Festlegung von Leistungskennzahlen zu schaffen.

Verankerung der Nachhaltigkeit im Geschäftsmodell

Da die gesetzlichen Bestimmungen strenger werden und die Erwartungen der Verbraucher und der Gesellschaft steigen, müssen die Automobilunternehmen bei den aktuellen und geplanten Investitionen der Realität ins Auge blicken. Die Automobilindustrie steht vor einem entscheidenden Jahrzehnt, denn es gilt, das Produktportfolio von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor auf Elektroantrieb umzustellen. Führende Unternehmen haben sich für diesen Wandel zwar gut positioniert, doch ist ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, der neue Prozesse, Menschen und den Schutz des ganzen Planeten einbezieht.

Ralf Blessmann, Leiter des Automotive Sektors bei Capgemini in Deutschland, sagt: „Die Automobilindustrie befindet sich auf dem Weg in ein neues Zeitalter, das vor allem vom Umstieg auf Elektrofahrzeuge geprägt sein wird. Obwohl Nachhaltigkeit als oberste Priorität gesehen wird, gerät die Branche als Ganzes ins Hintertreffen. Die Automobilunternehmen müssen ihren Nachhaltigkeitsansatz neu überdenken, wenn sie die im Pariser Abkommen für 2050 festgelegten Ziele zur Klimaneutralität erreichen wollen. Dazu gehört ein deutliches und erneuertes Engagement für die Kreislaufwirtschaft, das sich auf den gesamten Lebenszyklus des Fahrzeugs konzentriert sowie die Einbeziehung von Scope-3-Emissionen. Rechenschaftspflicht ist unerlässlich, um Ziele und KPIs für die gesamte Organisation zu definieren und Fortschritte bei der Umsetzung dieser Ziele zu erzielen.“

Methodik der Studie

Das Capgemini Research Institute befragte im Juli und August 2022 1.080 Führungskräfte aus großen Unternehmen, darunter Automobilhersteller mit einem Jahresumsatz von mehr als 1 Milliarde US-Dollar, Automobilzulieferer und reine EV-Hersteller. Die befragten Führungskräfte stammten aus den Bereichen Unternehmensstrategie, Produktstrategie, Planung, Finanzen, Lieferkette, Nachhaltigkeit, Aftersales, Mobilitätsdienstleistungen, Vertrieb und Marketing, Fertigung und Produktion, Betrieb, IT, Technik, Forschung und Entwicklung sowie Design. Die Befragten befanden sich auf der Ebene eines Direktors oder höher und waren für die Nachhaltigkeitsstrategie, -initiativen, -steuerung und -investitionen des Automobilunternehmens sowie für die daraus resultierenden Vorteile und Ergebnisse verantwortlich. Darüber hinaus wurden 20 ausführliche Interviews mit Führungskräften und Experten aus der Branche geführt. Die Studie umfasst folgende neun Länder: China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Japan, Schweden, Südkorea sowie die USA.

Die komplette Studie sowie Infografiken können unter folgendem Link heruntergeladen werden: https://ots.de/9jp2fS

Fußnoten:

[1] Investitionen in Nachhaltigkeitsinitiativen sind definiert als Investitionen in Technologien, Prozesse und Fähigkeiten, um die Nachhaltigkeitsziele des Unternehmens zu erreichen, ohne große Capex Investitionen, die Automobilunternehmen u.a. in die Forschung und Entwicklung sowie die Herstellung von Elektrofahrzeugen tätigen.

[2] Nachhaltigkeit in der Automobilindustrie beinhaltet eine umfassende Sichtweise von Abläufen, Prozessen, Produkten und Dienstleistungen zur Schonung der Umwelt und der Gesellschaft. Dies umfasst eine Reihe von Elementen von „Nachhaltiger F&E und Produktentwicklung“ bis zu „Nachhaltiger IT“ und erstreckt sich über die gesamte Wertschöpfungskette der Automobilindustrie, von F&E bis zu Mobilitätsdienstleistungen. Für diese Untersuchung hat sich das Capgemini Research Institute auf den Aspekt der ökologischen Nachhaltigkeit aus den drei „ESG“-Aspekten konzentriert.

[3] Scope-1-Treibhausgasemissionen sind direkte Emissionen, die aus eigenen oder kontrollierten Quellen in die Atmosphäre abgegeben werden. Scope-3-Emissionen sind indirekte Treibhausgasemissionen, die nicht zu den Scope-2-Emissionen gehören und in der Gesamtwirtschaft entstehen. Sie entstehen durch die Aktivitäten eines Unternehmens, jedoch aus Quellen, die sich nicht im Besitz oder unter der Kontrolle des Unternehmens befinden. Einige Beispiele sind die Gewinnung und Produktion von eingekauften Materialien, der Transport von eingekauften Brennstoffen und die Nutzung von verkauften Produkten und Dienstleistungen. Scope 3 umfasst auch Emissionen im Zusammenhang mit der Entsorgung fester Abfälle und der Abwasseraufbereitung. Einige Scope-3-Emissionen können auch aus Transport- und Verteilungsverlusten im Zusammenhang mit eingekauftem Strom resultieren.

[4] Die Kreislaufwirtschaft ist ein regeneratives Konzept, das darauf abzielt, das Wachstum allmählich vom Verbrauch endlicher Ressourcen zu entkoppeln und sich damit vom linearen Modell „Take, Make, Waste“ zu lösen. Kreislaufmodelle tragen dazu bei, „die Ressourcen optimal zu nutzen, indem sie Abfälle während der Lebensdauer eines Produkts vermeiden, Produkte mit ihrem höchsten Wert erhalten und Rohstoffe in ihren ursprünglichen Zustand – zurück zur Natur – zurückversetzen“. Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat/web/circular-economy.

Über Capgemini

Capgemini ist einer der weltweit führenden Partner für Unternehmen bei der Steuerung und Transformation ihres Geschäfts durch den Einsatz von Technologie. Die Gruppe ist jeden Tag durch ihren Purpose angetrieben, die Entfaltung des menschlichen Potenzials durch Technologie zu fördern – für eine integrative und nachhaltige Zukunft. Capgemini ist eine verantwortungsbewusste und diverse Organisation mit einem Team von über 350.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in mehr als 50 Ländern. Eine 55-jährige Unternehmensgeschichte und tiefgehendes Branchen-Know-how sind ausschlaggebend dafür, dass Kunden Capgemini das gesamte Spektrum ihrer Geschäftsanforderungen anvertrauen – von Strategie und Design bis hin zum Geschäftsbetrieb. Dabei setzt das Unternehmen auf die sich schnell weiterentwickelnden Innovationen in den Bereichen Cloud, Data, KI, Konnektivität, Software, Digital Engineering und Plattformen. Der Umsatz der Gruppe lag im Jahr 2021 bei 18 Milliarden Euro.

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Über das Capgemini Research Institute

Das Capgemini Research Institute ist Capgeminis hauseigener Think-Tank in digitalen Angelegenheiten. Das Institut ist seit über 25 Jahren Herausgeber der Capgemini World-Report-Serie mit speziellem Fokus auf Finanzdienstleistungen. Es veröffentlicht Studien zu den Themen Digitalisierung, Innovation, Technologie und Geschäftstrends, die Banken, Vermögensverwaltungsunternehmen und Versicherer auf der ganzen Welt betreffen. Eine unabhängige Agentur stufte den kürzlich vom Institut veröffentlichten World Retail Banking Report als eine der 10 besten Publikationen unter den Beratungs- und Technologieunternehmen weltweit ein.

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